Sie sind gegen die Verbreitung religiöser Weltanschauungen, sind aber für ein christliches Abendland. Sie wollen keine Rassisten sein, haben aber etwas gegen Ausländer. Sie stören sich an Privilegien, fühlen sich als Patrioten mit deutschen Wurzeln aber nicht privilegiert genug. Sie fordern Meinungsvielfalt, diffamieren aber Vertreter anderer Auffassungen. Sie sind gegen (Ausländer-)Kriminalität, aber ihr Organisator ist selbst vorbestraft. Sie verabscheuen Parallelgesellschaften, bilden jedoch selbst eine. Sie halten der Presse vor, dem Volk Meinungen vorzugeben, und maßen sich selbst an, für das Volk zu stehen. Sie fordern von anderen mehr Objektivität, berufen sich aber gerne auf ihren subjektiven Eindruck, dem sie offenbar ohne den geringsten Zweifel die unverfälschte Erfassung der Wahrheit zutrauen. Die „patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ fordern für sich Dinge ein, die sie anderen nicht zugestehen wollen, und sie tun dies gestützt allein auf das zufällige Privileg Deutsche zu sein.
Die Journalisten im Gegenzug sprechen von Toleranz, können die Pegida-Anhänger aber nicht tolerieren. Sie fordern Vielfalt, aber bitte ohne die Einfältigen. Sie nutzen ihre publikumswirksame Plattform, wollen sie anderen aber nicht zugestehen. Sie nehmen für sich in Anspruch, sich mit keiner Sache gemein zu machen, verteidigen aber selbstverständlich vehement Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte. Sie bestehen auf ihrer öffentlichen Rolle, tun sich aber schwer damit, Öffentlichkeit jenseits der altbekannten Medienhäuser zu aktzeptieren. Die Journalisten fordern für sich Dinge ein, die sie anderen nicht zugestehen wollen, und sie tun dies gestützt allein auf das aus journalistischer Selbstselektion hervorgegangene Privileg, Mitarbeiter einer etablierten Institution der Medienlandschaft zu sein.
Mit Pegida stehen sie vor einem alten Dilemma: Soll man die Intoleranten tolerieren? Sind Einfältige ein satisfaktionsfähiger Teil der Vielfalt? Wie soll man mit denjenigen umgehen, die sich wohlfeil ebenjener demokratischer Freiheiten bedienen, die ihnen eigentlich zu weit gehen und die sie anderen auch gerne vorenthalten würden? Und soll man Menschen eine Diskussion anbieten, die den Dialog nicht wollen? – Das Internet, das jedem einen öffentlichen Artikulationsraum bereithält, lässt Fragen wieder aktuell werden, auf die zwar nie eine befriedigende Antwort gefunden wurde, die aber dennoch beinahe in Vergessenheit geraten sind, weil in einer Welt unidirektionaler Medien mit wenigen Sprechern und vielen Zuhörern kein Entfaltungsspielraum für sie vorhanden war. Dabei hat uns diese großartige Technologie im Grunde eine Medienwelt beschert, wie Bertolt Brecht sie sich 1932 gewünscht hatte:
„Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.“ (1967, S. 147f)
Darüber hinaus bietet das Internet auch noch Möglichkeiten, die vom Idealbild eines herrschaftsfreien Diskurses, wie ihn sich Jürgen Habermas ausgemalt hat, nicht weit entfernt scheinen:
„Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrungen der Kommunikation aus. Und zwar erzeugt die Kommunikationsstruktur nur dann keine Zwänge, wenn für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, gegeben ist.“ (1984, S. 177)
Die Asymmetrie einer Öffentlichkeit für alle und alles
Das Internet bringt die Hörer zum sprechen und gibt mittlerweile zumindest in fortgeschrittenen Staaten beinahe jedem die Chance am Diskurs teilzunehmen. Wer will, kann sich öffentlich äußern und sehr, sehr viele tun genau das. In der geringen Zahl derjenigen, die in der Vergangenheit Zugang zu den wenigen öffentlichkeitswirksamen Medien hatten, liegt für Brecht und Habermas ein limitierender Faktor, der schlimmstenfalls eine Verengung der öffentlichen Diskussion zur Folge hat. Diese Verengung existiert dank Internet nicht mehr, denn im Prinzip kann nun tatsächlich der Beitrag eines jeden von allen anderen wahrgenommen werden. Doch genau dazu kommt es letztlich nicht – und zwar ausgerechnet weil der von Brecht und Habermas beklagte limitierende Faktor nicht mehr limitiert. Denn wenn nicht nur prinzipiell jeder etwas zur öffentlichen Diskussion beitragen kann, sondern viele diese Option auch noch nutzen, dann gibt es zwangsläufig innerhalb kürzester Zeit mehr neue öffentliche Beiträge als im Leben eines Rezipienten verarbeitet werden können.
Genau hier treffen Pegida und die Journalisten aufeinander: Auf der einen Seite stellen die Menschen fest, dass sie tatsächlich öffentlich wahrnehmbare Beiträge leisten können. Alles, was sie mitteilen wollen, können sie der Allgemeinheit zugänglich machen, darunter auch ihren Unmut über öffentliche Angelegenheiten. Sie können nicht mehr nur bei der Wahl alle paar Jahre ihr Kreuz machen, sie können sich, wenn sie wollen, kontinuierlich artikulieren – genau wie Journalisten. Doch sie müssen feststellen, dass die allerwenigsten davon Kenntnis nehmen, was sie zu sagen haben – und zwar vor allem bei öffentlichen Angelegenheiten. Und sie stellen zudem fest, dass das nicht für alle Teilnehmer am Diskurs gleichermaßen gilt, sondern dass manche nicht in der Menge untergehen, sondern durchaus wahrgenommen werden: die Journalisten. Dafür mag es inhaltliche, handwerkliche und stilistische Gründe geben, aber zu einem guten Teil, so dämmert es den Internetnutzern bald, liegt es an der Plattform aus den vergangenen Tagen. In Presse, Rundfunk und TV, den unidirektionalen Massenmedien der vergangenen Tage, konzentriert sich offline wie online noch immer der öffentliche Diskurs.
Wie in all den Jahrzehnten zuvor herrscht deshalb noch immer eine asymmetrische Chance, wahrgenommen zu werden. Der Asymmetrie wurde allerdings durch das Internet die technische Grundlage entzogen, die ihr als Legitimation diente. In welches Internet-Forum man auch einen Blick wirft, man stellt fest, dass diese ungleiche Rollenverteilung nicht nur im Umfeld von Pegida vielen nicht mehr akzeptabel erscheint – bemerkenswerterweise obwohl Beiträge ohne journalistisch geschulte Autorschaft die Grenzen der Zumutbarkeit noch viel öfter und stärker strapazieren als jene mit. Echte Alternativen zu dieser Asymmetrie gibt es aber bisher nicht und ein gleichberechtigtes Durcheinander aller hätte erstmal undurchdringliches Rauschen zur Folge (und mit Blick auf die Umgangsformen in Foren nicht selten kaum mehr zu bieten als einen billigen Austausch persönlicher Beleidigungen).
Privilegien im öffentlichen Diskurs
Das wiederum betrachten viele Journalisten offenbar als Legitimation genug, ihre privilegierte Stellung nicht weiter zu hinterfragen. Schon allein aufgrund jahrelanger Ausbildung und mühsamer Karrierewege beanspruchen einmal etablierte Journalisten nicht selten das Vorrecht für sich, im öffentlichen Diskurs eine tragende Rolle zu spielen. Zugleich aber entzieht die allgemeine Verfügbarkeit von Nachrichten, Informationen und Expertenwissen dem Journalismus jene Exklusivität, die seine Unverzichtbarkeit über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte gewahrt hatte. Die Arbeit der Journalisten wird überprüfbar, vergleichbar und unmittelbar kritisierbar. Ein einzelner Autor sieht sich so schnell zu recht oder zu unrecht einem sich gegenseitig anfeuernden Furor vieler gegenüber, die quasi im Vorbeigehen ihren gesammelten mehr oder weniger fundierten Wissensstand in die Waagschale werfen. Einigermaßen abgeschottete Deutungshoheit über öffentliche Angelegenheiten ist im Zeitalter des Internet nicht mehr zu haben, die privilegierte Stellung des Journalismus dahin. Dass so mancher das noch nicht wahrhaben will, erschwert den anderen Journalisten die Arbeit, weil Borniertheit unter Privilegierten immer das Privileg insgesamt in Frage stellt.
Das Internet als Spiegel der Menschheit
Betrachtet man das Internet nun in seinen verschiedenen Facetten, so stellt es der Menschheit eher kein gutes Zeugnis aus (was jener aber möglicherweise gerade deshalb durchaus gerecht wird): Da herrscht in vielen Foren eine Gesprächskultur, die eine vernünftige Diskussion gar nicht erst zulässt. Am fleißigsten gepflegt sind ausgerechnet jene ganz der Individualität gewidmeten Seiten, auf denen das eigene Ich mit hedonistischer Hingabe herausgeputzt wird. Nicht zu vergessen, dass neben diesem Basar von Eitelkeiten und mangelnden Umgangsformen vermutlich ein Viertel des bewegten Datenvolumens nicht jugendfreie Inhalte enthält. Die „zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede“ (ebd. S. 605), für Habermas eine in der Kommunikation grundsätzlich angelegte Verständigungsorientierung, ist im Internet jedenfalls nur selten anzutreffen.
Das Netz ist aber auch eine riesige Ansammlung von gewerblichen und informativen Schaukästen. Wer will diesen Informationsgehalt noch missen? Es ist zudem eine gewaltige Drehscheibe für private und geschäftliche Kommunikation. Wer hätte davon nicht gerne etwas weniger, doch wer wollte ernsthaft ganz darauf verzichten? Es ist eine bequeme Einkaufsplattform. Wer nutzt sie nicht? Und es wird mit jedem Tag mehr das zentrale Unterhaltungsmedium. Wer genießt nicht die persönliche Entkopplung von Sendezeiten und redaktioneller Vorselektion? Trotzdem stellt das Internet Öffentlichkeit nicht in einem Maße her, das über jenes der kaum mehr vorstellbaren Offline-Vergangenheit hinausgeht. Wie kann das sein?
Das Verschwinden der Hintergrundrealität
Massenmedien hatten in ihrer langen Geschichte bislang immer einen gemeinsamen Bestand an Bezugsthemen und voraussetzbarem Wissen generiert. Zunächst in Form bedeutender Bücher, dann durch die synchrone Verbreitung von Zeitungsnachrichten in riesigen Auflagen, später ergänzt um redaktionell ausgewählte Sendungen. Noch in den 1980er Jahren war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine beliebige Person im gleichen Land, wer auch immer sie sein mochte und wo auch immer man sie traf, im Fernsehen die gleiche Unterhaltungssendung zur gleichen Zeit gesehen hatte und die gleichen Nachrichten entweder in ähnlicher Tonalität kannte wie man selbst oder in einer der wenigen redaktionellen Varianten davon. Es gab eine gemeinsame „Hintergrundrealität“ (Luhmann 1996, S. 173).
Mit dem Internet hat sich die Situation grundlegend verändert. Jeder bedient sich aus einer unüberschaubaren Menge an Unterhaltungsmöglichkeiten, von klassischen Fernsehsendungen über Amateur-Videoportale und Computerspiele bis hin zu einer Vielzahl musikalischer Genres. Wenigstens bei den Nachrichten scheint die Situation weniger fragmentiert, sofern sie durch den Wust an privaten Nachrichten durchzudringen vermögen. Die Bündelung der wichtigsten neuen Themen von öffentlichem Interesse scheint zumindest vorerst Aufgabe der Stars aus der Ära unidirektionaler Massenmedien geblieben zu sein: Zeitungen und TV. Unwidersprochen bleiben sie allerdings nun nicht mehr. In der Deutung aktueller Ereignisse vollzieht sich eine enorme Fragmentierung. Neben die Kommentatoren professioneller Medien treten Blogger und Foristen in großer Zahl. Die gemeinsame Hintergrundrealität verliert im Stimmengewirr ihre Einheitlichkeit und Selbstverständlichkeit. Sie zerfällt in eine Vielzahl an Facetten und wird selbst zum Gegenstand von Kämpfen um die Deutungshoheit.
Neue Fundamente für die öffentliche Meinung
Genau diesen alten Anspruch auf Deutungshoheit seitens der klassischen Medien will Pegida nicht mehr akzeptieren, allerdings nur um selbst exklusive Deutungshoheit über die Lage der Nation zu beanspruchen und sich als vermeintlich einzig wahre Stimme des Volkes selbst zu überhöhen. Einen solchen Absolutheitsanspruch aber kann es freilich im Zeitalter des Internet nicht mehr geben. Pegida ist lediglich der Kampf der Ewiggestrigen gegen die Strukturen von gestern mit den Mitteln von heute. Das ist verführerisch, weil jeder Rückzug auf Altbekanntes den Charm der Vertrautheit und Einfachheit hat. Es ist aber auch gefährlich, weil die Unangemessenheit angesichts der gegenwärtigen Komplexität verschleiert wird. In jedem Fall zeigt die Anmaßung von Pegida und unbeholfene Reaktion der Presse darauf, dass die öffentliche Meinung ein neues Fundament braucht. Das plattformbedingte Privileg des professionellen Journalismus ist nicht mehr zeitgemäß und das Stammtisch-Niveau von Foren nicht verständigungsorientiert. Zudem geht in beiden Fällen völlig unter, welche Argumentation wie viel Zustimmung aus der Bevölkerung erfährt, weil die schweigende Mehrheit sich auch durch das Internet nicht aus der Reserve hat locken lassen.
Dabei wären die technischen Voraussetzungen längst gegeben. Schließlich bieten Internet-Foren beinahe jedem die Möglichkeit öffentlicher Mitsprache in einem größeren Umfang als jedes andere Medium zuvor. Aber sie leiden darunter, dass einige ihre ein, zwei immergleichen Gedanken in unzähligen Variationen unermüdlich zum Besten geben. Beinahe jeder brauchbare Beitrag versinkt so in einem Meer von abgesonderten Duplikaten in Endlosschleife geratener Mitteilungsbedürfnisse. Die vielen guten Ideen vieler schlauer Mitmenschen gehen unter in der Masse unbedeutender Logorrhoe. Frustriert wünscht man sich geradezu ein Super-Forum: Wer will, darf seine Position zu einem bestimmten Thema in einem Beitrag darlegen. Alle anderen dürfen sich genau einer Position anschließen. Pro Person maximal ein Beitrag und nur eine Stimme. Umso mehr Menschen mitmachen, desto repräsentativer wird das Bild. Marginalität und Popularität einzelner Positionen wären sofort erkennbar. TTIP, GEZ und Gentechnik in der Landwirtschaft hätten sich dann vermutlich längst erledigt, halbgare Mafos ganz nebenbei auch.
Mit dem Internet ist womöglich mehr direkte Demokratie umsetzbar, als wir heute glauben, aushalten zu können. Zugleich ist eine auf Repräsentation abzielende klassische Medienlandschaft aber nicht direkt-demokratisch genug, um das Internet aushalten zu können. Die repräsentative Demokratie ist dabei eine Öffentlichkeit gleichen Strukturprinzips zu verliern, während eine andere noch ohne klare Struktur im Entstehen begriffen ist. Das aber kann auch für die Demokratie, wie wir sie kennen, nicht ohne Folgen bleiben. Pegida dürfte allerdings weniger ein Vorbote dieser Entwicklung als vielmehr ein Trittbrettfahrer davon sein. Den Patrioten ist es gelungen, sich das ungefilterte, direkte Empörungspotential der neuen Öffentlichkeit zunutze zu machen, aufgrund ihres rückwärtsgewandten Demokratie-Verständnisses dürften sie jedoch in einer Welt fragmentierter Meinungsbildung keine dauerhafte Loyalität herstellen und deshalb keinen Bestand haben können.
Bertolt Brecht (1997): Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Sechster Band; Frankfurt am Main.
Jürgen Habermas (1984): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; Frankfurt am Main.
Niklas Luhmann (1996): Die Realität der Massenmedien; Opladen.
Auch ein halbes Jahr später bleiben die Positionen von Pegida und Journalisten verhaftet, wie Ulrich Wolf trotz oder vielleicht auch wegen seiner umfangreichen und lesenswerften Recherche in einem Artikel auf dem Blog von Stefan Niggemeier zeigt.