In jenem Jahr, in dem Napoléon starb, veröffentlichte Georg Wilhelm Friedrich Hegel seine Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ausgangspunkt ist die Idee, dass mit der Aufklärung die Natur aller Zufälle beraubt wurde und die Wissenschaft sie zu durchschauen, ihre inneren Gesetzmäßigkeiten zu verstehen beansprucht. Bei der Gesellschaft hingegen wird weiterhin so getan, als würde sie dem Zufall gehorchen. Das kann nach Hegels Meinung nicht angehen, da auch sie der Vernunft gehorche:
„Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr gegenwärtige, wirkliche Vernunft, nicht die auf der Oberfläche sich zeigenden Gestaltungen und Zufälligkeiten, sondern ihre ewige Harmonie, aber als ihr immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente des Selbstbewußtseins verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne. Das geistige Universum soll vielmehr dem Zufall und der Willkür preisgegeben, es soll gottverlassen sein, so daß nach diesem Atheismus der sittlichen Welt das Wahre sich außer ihr befinde und zugleich, weil doch auch Vernunft darin sein soll, das Wahre nur ein Problema sei.“ (Hegel 1970a, S. 16)
Nach all den Fortschritten der Naturwissenschaften erscheint die wilde Natur vernünftig, die Gesellschaft vernunftbegabter Menschen aber wild. Wie kann das sein? Das will Hegel nicht akzeptieren, sondern geht davon aus, dass die ganze Welt – Natur ebenso wie Gesellschaft – von Vernunft durchdrungen sein muss, wodurch es zu einer berühmten Formulierung kommt:
„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ (ebd. S. 24)
Ein solcher Ansatz führt freilich zwangsläufig dazu, alles, was ist, unkritisch hinzunehmen. Denn wenn die Welt so, wie sie ist, vernünftig ist, dann gibt es keinen Grund daran etwas in Zweifel zu ziehen. Zugleich legt der Ansatz auch nahe, alles, was ist, als so und nicht anders möglich anzuerkennen. Demnach wäre alles vernünftig eingerichtet und vorbestimmt, sodass es keine Spielräume und mithin auch keine Freiheit gäbe. Trotzdem behauptet Hegel bei allem Vertrauen in die Vernünftigkeit der Welt davon unabhängig, der Wille sei frei.
„Der Wille enthält das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich, in welcher jede Beschränkung, jeder durch die Natur, die Bedürfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandene oder, wodurch es sei, gegebene und bestimmte Inhalt aufgelöst ist; die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst.“ (ebd. S. 49)
Damit tritt die von Immanuel Kant bekannte Trennung der Gesetzmäßigkeiten gehorchenden Welt der Natur einerseits und der freien Welt des Willens andererseits hier wieder zu Tage – und mit ihr die darin liegende Spannung. Auf der einenen Seite die ebenso notwendig wie vernünftig eingerichtete Natur, auf der anderen der ebenso unbestimmte wie vernunftgeprägte Wille, wobei letzterer selbst wiederum ein Produkt der Natur. Die Gesetzmäßigkeiten streng folgende Natur hätte sich damit selbst einen Hort der Unbestimmtheit geschaffen. Den Ausweg aus diesem Dilemma sucht Hegel darin, nicht nur einzelne Zustände zu betrachten, sondern die Bewegung zu begreifen, den Übergang von der einen Seite zur anderen zu betrachten. Diese dialektische Methode ist es, was die Faszination an Hegel bis heute aufrecht erhält, obwohl er teilweise auch äußerst fragwürdige Thesen vertritt. Wenn man den Willen nun in seiner gedanklichen Bewegung betrachtet, dann findet dieser sich zunächst einem unendlichen Möglichkeitsraum gegenüber, den er aus eigener Kraft beträchtlich reduziert und schließlich für sich in eine eindeutige Entscheidung zwingt. Der Einzelne wählt aus einer Unmenge an Alternativen etwas aus und legt sich darauf fest. Auf gesellschaftlicher Seite trägt dem das Recht Rechnung, indem es das Handeln nicht auf reine Notwendigkeit einschränkt, sondern dem freien Willen einen Möglichkeitsraum der Entfaltung einräumt, also verschiedene Überführungen in Bestimmtheit, den Menschen verschiedene Selbstfestlegungen zulässt.
„Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“ (ebd. S. 46)
Napoléon hatte mit dem Code civil eine Rechtssicherheit geschaffen, die zuvor unbekannt war. Wer sich an die Gesetze hielt, konnte nicht belangt werden. Viele Unwägbarkeiten, wie sie die Interpretation des Gewohnheitsrechts durch die Richter zuvor oft mit sich brachte, wurden dadurch beseitigt. Hegel war Zeuge dieser Entwicklung und betrachtet es entsprechend weniger als reglementierend, denn als befreiend, wenn das Recht die Möglichkeit verleiht, innerhalb eines Rahmens Verschiedenes zu tun, seinem Willen mehrere Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu unterbreiten. Das Recht gewährt Freiheit, dennoch bleibt der Einzelne den ihn umgebenden gesellschaftlichen Umständen unterworfen. Diese Sittlichkeit selbst ist aber nun Ergebnis des Zusammenwirkens aller Individuen und ihrer willentlichen Entscheidungen. So sehr der Einzelne damit einerseits durch das Sittliche in der Ausübung seines eigenen freien Willens eingeschränkt bleibt, so sehr kann Freiheit andererseits überhaupt nur in einer sittlichen Gesamtheit, in einer Rechtsgemeinschaft verwirklicht werden. In der Einsamkeit hingegen ist Freiheit ebenso grenzen- wie bedeutungslos. Unter einer Mehrzahl an Menschen kann sich aber niemand jenem Gefüge entziehen, das durch deren Aufeinandertreffen entsteht. Der Wille ist zwar auch dann frei, aber eben nicht mehr unbeeinflusst von der vorgefundenen, von Menschen gemachten Umgebung.
„Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.“ (ebd. S. 292)
Nur in der Gesellschaft, nur im sittlichen Zusammenleben kann Freiheit eine greifbare Wirklichkeit erfahren. Die Freiheitsgrade jedes Einzelnen wie auch die gestalterischen Freiheiten des Gemeinwesens insgesamt sind weder naturgegeben noch entspringen sie aus der Summe der Individuen, sondern ergeben sich aus den bestehenden sittlichen und organisatorischen Verhältnissen. Das Leben der Individuen wird durch die objektive Sittlichkeit, durch den Gesellschaftsaufbau regiert. Sie werden durch die sie umgebenden Umstände geprägt und eingeschränkt, aber nur darin können die Individuen ihre Wirklichkeit haben und deshalb können sie nur darin frei sein. Nur innerhalb einer Rechtsgemeinschaft gewinnt Freiheit Bedeutung und nur dort kann sie sich realisieren. Diese Folgerung erinnert an Jean-Jacques Rousseau und ganz ähnlich wie dieser schränkt Hegel die Bedeutung des Individuums ein:
„Ob das Individuum sei, gilt der objektiven Sittlichkeit gleich, welche allein das Bleibende und die Macht ist, durch welche das Leben der Individuen regiert wird.“ (ebd. S. 294)
Die Individuen vergehen, aber die Sittlichkeit, die Gesellschaft bleibt. Der Wille dieses Sittlichen ist deshalb dauerhafter als der individuelle und er ist mächtiger. Er dominiert die Individuen, aber lässt sie zugleich an seiner eigenen Größe teilhaben. Die Pflicht der Teilhabe am Ganzen deutet Hegel deshalb sogar als Befreiung.
„Als Beschränkung kann die bindende Pflicht nur gegen die unbestimmte Subjektivität oder abstrakte Freiheit und gegen die Triebe des natürlichen oder des sein unbestimmtes Gute aus seiner Willkür bestimmenden moralischen Willens erscheinen. Das Individuum hat aber in der Pflicht vielmehr seine Befreiung, teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtriebe steht, sowie von der Gedrücktheit, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist, teils von der unbestimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handelns kommt und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit.“ (ebd. S. 297f).
In der Pflicht erlange der Einzelne seine Freiheit, weil er dadurch davon abgehalten werde, seinen Trieben zu folgen, meint Hegel also. Damit enfliehe man zugleich der eigenen Beschränktheit und beteilige sich stattdessen an der Wirklichkeit des Ganzen. Freiheit besteht folglich dann darin, seiner Pflicht nachkommen zu dürfen. Aber kann man das noch Freiheit nennen? Und ist damit allein schon die Freiheit des Ganzen gewährleistet?
Wozu Staat?
Ist das die Lehre aus Napoléons Wirken? Tatsächlich hat der Code civil jenes gleiche Recht für alle und jene individuellen Freiheitsrechte konkret fassbar gemacht, die von der französischen Revolution in den Menschenrechten zwar festgehalten, aber nicht im Alltag zum Leben erweckt wurden. Bonaparte hat auch gezeigt, was möglich ist, wenn man alle Kräfte bündelt, wenn man alle verpflichtet und das Volk nicht nur als Anhängsel der Aristokratie betrachtet. Eine enorme Modernisierung des Staats- und Kriegswesens wurde aus der Verpflichtung aller erzeugt. Aus der Idee des gleichen Rechts für alle und der Bündelung aller Kräfte wurde allerdings schnell auch gerade militärisch das gleiche Recht und die Bündelung aller Kräfte genau eines Volks. Die Kraft des großen Ganzen war plötzlich nicht größer als das so genannte Vaterland und die Freiheit des Individuums bestand dann nur noch darin, dem Staat gegenüber seine Pflicht zu erfüllen und gegebenenfalls als Soldat zu sterben. Aus Untertanen der Fürsten waren Untertanen eines vermeintlich vaterländischen Staates geworden. Aus Feinden des Adels waren Feinde benachbarter Völker geworden. Aus Kämpfern für Gleichberechtigung waren Kämpfer für die Bevorzung der eigenen Nation geworden.
Hegel zieht den Schluss, dass Freiheit auf individueller Ebene nicht zu verwirklichen ist, weil sich so kleinteilig keine gesellschaftlichen Veränderungen umsetzen lassen. Auf staatlicher Ebene geht das aber sehr wohl, wie der französische Kaiser anschaulich bewiesen hat. Hier kann der freie, aber in erster Linie staatliche Wille sich entfalten. Zum allgemeinen Willen erhoben erklärt Hegel diesen zum Selbstzeck, ganz so wie Rousseau dies für den Gemeinwillen getan hat.
„Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein. Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. – Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate. – Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit, d. i. des allgemeinen substantiellen Willens und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens – und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln. – Diese Idee ist das an und für sich ewige und notwendige Sein des Geistes.“ (ebd. S. 399)
Die konkrete Freiheit besteht demzufolge darin, dass sie in die Allgemeinheit übergeht. Ein Staat ist dann die substantielle Vernünftigkeit und absolute Macht auf Erden. Aufgrund von seiner Ohnmacht gegenüber dem großen Ganzen degradiert diese Denkart das Individuum schlichtweg zum reinen Erfüllungsgehilfen des Staates. Wenn ein Einzelner schon nichts ausrichten kann, dann soll er sich halt gleich ganz in den Dienst eines mächtigen Apparats stellen. Wenige Jahre nachdem Napoléon mit einem straff organisierten Staatsapparat die Wirren der Revolution in Frankreich ebenso weggewischt hat wie vorrübergehend fast alle Fürsten im restlichen Europa, wird von einem deutschen Philosophieprofessor die ordnende Gestaltungskraft zu einem Akt der Freiheit erhoben, in den jedes an sich bedeutungslose Individuum sich nur noch einzufügen braucht und dies auch soll. Hat nicht die französische Revolution gezeigt, dass einer allein ohnehin nichts ausrichten kann und dass die Herrschaft des Volkes schnell in einem unkoordinierten Chaos endet? Und hat nicht Napoléon gezeigt, dass ein mit Autorität geführter Staat Erstaunliches bewegen kann?
Auch wenn die napoleonischen Kriege am Ende in einen Gegensatz der Nationalitäten mündeten, so kommt Hegel schon allein aufgrund seiner Grundprämissen nicht umhin, im Geschehen trotzdem eine umfassende Vernunft am Werke zu sehen. Auch der Gegensatz der Nationalstaaten kann dann nur ein weiterer Schritt in einer Weltgeschichte sein, in der letztlich die Vernunft des „allgemeinen Geistes“ (ebd. S. 504) zu sich selbst komme. Es setze sich die notwendige Entwicklung als Momente der Vernunft durch, sodass die Freiheit des Geistes zur Verwirklichung finde. Dabei kann laut Hegel jedes Volk Träger der Weltgeschichte sein und hat als solcher das absolute Recht, sich gegen andere durchzusetzen.
„Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche – und es kann in ihr nur einmal Epoche machen – das herrschende. Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.“ (ebd. S. 506)
Napoléon schrieb demnach eine Epoche der Weltgeschichte, in der die Freiheit der anderen Völker zu Recht eingeschränkt war, damit die Vernunft des allgemeinen Willens sich zu entfalten vermag. Damit tritt letztlich jede Freiheit, sei es eines Individuums oder eines Staates, hinter das Vorrecht eines vermeintlich allgemeinen Willens des Weltgeistes, der alles andere überragt, zurück. Der Verlauf der Weltgeschichte ist dann alternativlos, weil sich in ihr ein übergreifender, objektiver Wille unaufhaltsam verwirklicht. Bei Hegel herrscht also Vernunft, wohin das Auge blickt:
„Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.“ (Hegel 1970b, S. 20)
Am 27. August 1770 in Stuttgart geboren, wuchs Hegel in einer noch voll und ganz dem Absolutismus verschriebenen Welt auf, deren überkommene Strukturen er sehr nah erlebte, weil sein Vater als Beamter der Hofkammer Teil der tyrannisch anmutenden Herrschaftsausübung des Herzogs Carl Eugen von Württemberg war. Als 19 Jahre später die Französische Revolution ausbrach, absolvierte der Beamtensohn gerade ein Theologiestudium am Tübinger Stift, dessen Rückwärtsgewandtheit geradezu bedrückend gewirkt haben muss. Trotz dieser insgesamt stark konservativen Erziehung zeigte sich der junge Hegel von den revolutionären Ideen der Freiheit und Gleichheit begeistert und galt zwischenzeitlich sogar als Jakobiner. Während diese in Frankreich die Macht erlangten und bald schon wieder verloren, arbeitete der frisch gebackene Theologe als Hauslehrer für verschiedene reiche Familien. 1801 begab er sich dann ins sächsische Jena, um an der Universität seine Doktorarbeit zu verfassen und als Privatdozent Vorlesungen zu halten. Leibhaftig zu Gesicht bekam er dort am 13. Oktober 1806 Napoléon, der offenbar tiefen Eindruck hinterließ, denn Hegel schrieb in einem Brief:
„Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognizieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.“ (????)
Im unermüdlich erobernden französischen Kaiser meinte Hegel den personifizierten Weltgeist zu erblicken. Was dem Philosophen einen so erhebenden Anblick bescherte, mündete allerdings für circa 30.000 Soldaten im Tod. Napoléon ritt nämlich durch die Stadt, um die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt vorzubereiten, in der er am nächsten Tag die verbündeten Preußen und Sachsen besiegt hat, woraufhin sein Einflussbereich sich bis an die Grenze Russlands erweiterte. Wenige Monate darauf verließ Hegel Jena, um sich vergeblich als Journalist zu versuchen, weshalb er von 1808 an als Rektor eines Gymnasiums in Nürnberg arbeitete. Erst nach der endgültigen Niederlage und Verbannung Napoléons erlangte er zunächst im badischen Heidelberg eine Universitätsprofessur. Von dort wechselte er dann an die Universität des preußischen Berlin, wo er 1831 starb.
Bis zuletzt war Hegels Vertrauen in den Lauf der Dinge gewaltig und er vertraute ganz und gar in die recht jungen Erfindungen eines Staates als unpersönliche Einheit und eines Volkes als nationale Einheit, wobei er dem „Germanischen Reich“ (Hegel 1970b, S. 140) die größte Reife zuspricht. Um in Hegels Sinne frei zu sein, muss man sich, so paradox es klingen mag, nur noch dem Staatsapparat voll und ganz unterordnen. Denn der subjektive Wille sei ausgesöhnt, wenn er das Notwendige und das Gesetz anerkennt, wenn er sich dem Staat und seinem Vaterland ganz und gar unterwirft.
„In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede sein, welche einen Staat bilden. Denn man muß wissen, daß ein solcher die Realisation der Freiheit, d. i. des absoluten Endzwecks ist, daß er um seiner selbst willen ist; man muß ferner wissen, daß allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, er allein durch den Staat hat. (…) Denn das Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjektiven Willens; und das Allgemeine ist im Staate in den Gesetzen, in allgemeinen und vernünftigen Bestimmungen. Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist. Er ist so der näher betimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin die Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genusse dieser Objektivität lebt. Denn das Gesetz ist die Objektivität des Geistes und der Wille in seiner Wahrheit; und nur der Wille, der dem Gesetze gehorcht, ist frei, denn er gehorcht sich selbst und ist bei sich selbst und frei. Indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht, indem sich der subjektive Wille des Menschen den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit. Notwendig ist das Vernünftige als das Substantielle, und frei sind wir, indem wir es als Gesetz anerkennen und ihm als der Substanz unseres eigenen Wesens folgen: der objektive und subjektive Wille sind dann ausgesöhnt und ein und dasselbe ungetrübte Ganze.“ (Hegel 1970b, S. 56f)
Kaum verwunderlich, dass solche Sätze von Vertretern des aufkeimenden Nationalismus dankbar aufgenommen wurden. Tatsächlich ist der Staat zu einem mächtigen Werkzeug geworden, um die Dinge im Großen zu ändern. Im zeitgleichen erstarken verschiedener Staaten bedeutete dies allerdings immer auch, dass diese Wirkmächtigkeit der Staatsapparate dafür genutzt wurde, sie gegeneinander einzusetzen, mithin Krieg zu führen. Was nur umso hitziger geschah, je mehr die Geschichte im Sinne Hegels als eine Geschichte von Völkern und damit letztlich als ein Ringen von Nationen betrachtet wurde. Aber auch wenn der nationale Egoismus von Zeit zu Zeit weniger stark ausgeprägt war, so hatte und hat noch heute der Staat die zentrale Entscheidungsgewalt darüber, den Rahmen für das Zusammenleben zu setzen und den individuellen Beitrag zum Gemeinwesen einzufordern. Es ist ganz so, wie Hegel es gesagt hat: Ohnmächtig stehen die Individuen dem großen Ganzen gegenüber, aber man hat den Eindruck, dass mittlerweile auch die Staaten dem großen Ganzen ohnmächtig gegenüber stehen. Immer häufiger ist von Alternativlosigkeit die Rede, die Handlungsfreiheit ist dahin. Wo ist der allgemeine Weltgeist? Wer vermag die angebliche Vernunft aus dem alltäglichen Geschehen herauszulesen, die dem Verlauf der Weltgeschichte innewohnen soll? Und kommt die Freiheit im Staat wirklich zu ihrem höchsten Recht? Woher meint Hegel eigentlich all das zu wissen und weshalb sollten wir ihm vertrauen? Darauf antwortet Hegel ganz selbstbewusst mit seiner überlegenen Einsicht in das Ganze:
„Was ich vorläufig gesagt habe und noch sagen werde, ist nicht bloß, auch in Rücksicht unserer Wissenschaft, als Voraussetzung, sondern als Übersicht des Ganzen zu nehmen, als das Resultat, das mir bekannt ist, weil ich bereits das Ganze kenne.“ (Hegel 1970b, S. 22)
Mehr in:
Hubertus Niedermaier:
Wozu Demokratie?
Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit.
Konstanz und München: UVK 2017.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1970a): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt am Main.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1970b): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt am Main.