Nach seiner Verurteilung bot sich Sokrates die Chance zur Flucht, doch er ließ sie verstreichen. Seinen Freunden erklärte er dies damit, dass er sich auch im Angesicht des Todes den Gesetzen unterwerfen müsse, da der Staat sonst zerrütte. Staat, das ist in diesem Fall die Polis von Athen, also das Stadtgebiet mitsamt dem Umland der gesamten Halbinsel Attika, wo insgesamt circa 150.000 Menschen wohnten. Von Westspanien über Süditalien und Libyen bis Kleinasien sowie rund um das Schwarze Meer gab es mehr als hundert solcher – wenn auch nicht so großer – griechischen Stadtstaaten, wobei all diese Regionen durch Kolonisation vom griechischen Stammland aus besiedelt wurden. Jede Polis hatte eine eigene Regierung und ein eigenes Rechtssystem.
Die Gesetze des Stadtstaates Athen stellte Sokrates nun über sein eigenes Leben und das, obwohl das Todesurteil aus seiner eigenen Sicht zu Unrecht verhängt wurde. Weshalb aber misst er dennoch dem Staat eine solche Bedeutung bei? Da Sokrates selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat, muss man die Antwort bei seinem Schüler Platon suchen. Dieser war zum Zeitpunkt der Verurteilung seines Lehrers 30 Jahre alt und hat fortan Dialoge niedergeschrieben, in denen Sokrates die Hauptrolle einnimmt. In einem solchen Gespräch lässt er seinen Bruder Adeimantos zusammen mit Sokrates der Frage nachgehen, weshalb Menschen nicht alleine, sondern zusammen leben:
„SOKRATES: Es entsteht also eine Stadt, wie ich glaube, weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf. Oder glaubst du, daß von einem andern Anfang aus eine Stadt gegründet wird?
ADEIMANTOS: Von keinem andern. (…)
SOKRATES: Wohlan, laß uns also in Gedanken eine Stadt von Anfang an gründen. Es gründet sie aber, wie sich zeigte, unser Bedürfnis.
ADEIMANTOS: Was wohl sonst!
SOKRATES: Aber das erste und größte aller Bedürfnisse ist die Herbeischaffung der Nahrung des Bestehens und Lebens wegen.
ADEIMANTOS: Auf alle Weise.
SOKRATES: Das zweite aber die Wohnung; das dritte Bekleidung und dergleichen.“
(Platon 1994: S. 259f; 369b-d)
Diese und weitere Bedürfnisse lassen sich freilich leichter stillen, wenn nicht jeder alles macht, sondern sich auf eine Tätigkeit spezialisiert. Dann muss nicht jeder jeden Beruf mühevoll lernen, sondern nur einen. Platon geht zudem davon aus, dass die Menschen „von Natur verschieden und jeder zu einem andern Geschäft geeignet“ (Platon 1994: S. 260; 370b) sind.
Ist Ungleichheit gerecht?
Wenn nun jeder gemäß seinen Begabungen der für ihn am besten geeigneten Aufgabe nachgeht und sie in das Gemeinwesen einbringt, so erwächst daraus das bestmögliche Leben für alle. Das arbeitsteilige Zusammenleben ist für Platon damit nicht nur lebensnotwendig, sondern auch gerecht. Aus den Bedürfnissen der Einzelnen ergibt sich folglich die Notwendigkeit des Zusammenlebens in der Gesellschaft. Wenn aber das Leben des Einzelnen davon abhängt, dann muss sich jeder in den Dienst der Allgemeinheit stellen und somit „scheint die Gerechtigkeit zu sein, daß jeder das Seinige verrichtet“ (Platon 1994: S. 333; 433b), jeder seinen Platz und seine Aufgabe in der Gesellschaft ausfüllt. Nicht alle gleich zu behandeln, sondern die Ungleichheit der Menschen und der Aufgaben dazu zu nutzen, gemeinsam das Leben zu sichern und die Bedürfnisse besser zu stillen, das ist es, was Platon als gerecht bezeichnet.
Jedoch funktioniert das Zusammenleben ohne Zweifel nicht immer und überall gleich gut. Eine wichtige Rolle spielt dabei häufig, wie die gemeinsamen Angelegenheiten geregelt werden. Ebenso wie ein Schiff, so Platons Vergleich (vgl. Platon 1994: S. 391ff; 488a-489d), bedarf auch das Gemeinwesen der Steuerung. So wenig man aber das Kommando über ein Schiff irgendjemandem überlassen würde, so wenig sollte man das auch beim Staat machen. Wer aber kann aufgrund Ausbildung und Eignung in einem Staat des Kapitänsamt übernehmen? Da es gemäß platonischer Gerechtigkeit darauf ankommt, dass jeder das Seinige beiträgt und jede Tätigkeit durch die jeweils am besten Geeigneten durchgeführt werden soll, müssen freilich auch dafür die bestmöglichen Staatslenker ausgewählt und somit eine Herrschaft der Besten, eine Aristokratie errichtet werden. Wer aber sind die Besten für diese Aufgabe? Folgt man auch hier weiter Platon, dann sind es diejenigen, die sich voll und ganz der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Besonnenheit verpflichtet fühlen. Genau diese Eigenschaften sieht er in den Philosophen vereinigt und kommt deshalb zu folgendem Schluss:
„Wenn nicht (…) entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie (…) eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten (…) und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht“
(Platon 1994: S. 378; 473c-d).
Zusätzlich wird von den herrschenden Philosophen völlige Uneigennützigkeit verlangt. Sie sollten stets nur die Interessen der Allgemeinheit vor Augen haben. Um das zu gewährleisten, müssten sie jeglichem Besitz entsagen und von den Gaben der Bürger abhängig sein. Auf diese Weise ginge es den Regierenden nur gut, wenn es auch den Regierten gut geht. Hier gerät Platons Vergleich mit einem Schiff jedoch in Schieflage, denn Kapitäne arbeiten schließlich keineswegs uneigennützig und schon gar nicht ohne Lohn. Trotzdem wird ein Kapitän versuchen gute Arbeit zu leisten, wenn er lebend ankommen und zukünftig für weitere Fahrten beauftragt werden will. Der Herrscher eines Staates hingegen, wird nicht beauftragt, sonst wäre nicht er der Herrscher, sondern derjenige, der ihn beauftragt. Wenn ihn aber niemand abberufen kann, dann lässt sich Herrschaft nicht nur durch ihre gute Ausübung, sondern auch mittels Durchsetzung von Macht und Unterdrückung von Widerstand aufrecht erhalten. Auch wenn es nicht durchgängig das Gleiche ist, ein Schiff oder einen Staat zu lenken, macht Platon mit dem Vergleich dennoch deutlich, was gegen eine Besetzung von Regierungsämtern durch das Recht des Stärkeren oder, was in Athen durchaus phasenweise der Fall war, durch Losentscheid spricht.
Warum herrschen keine Philosophen?
Dass dennoch nirgendwo Philosophen an der Regierung sind, ist auch Platon nicht entgangen, wundert ihn allerdings auch nicht. Denn Menschen, die nichts von Schifffahrt verstehen, könnten auch keinen ausgebildeten Kapitän von einem Scharlatan unterscheiden – und ebenso verhalte es sich in Staatsangelegenheiten. Wer nichts vom Regieren versteht, erkenne auch keinen geeigneten Regenten. Außerdem drängten die Philosophen selbst auch nicht gerade aufs Regieren:
„Vielmehr ist das Wahre von der Sache, daß, mag nun ein Reicher krank sein oder ein Armer, er vor des Arztes Türe gehen muß, und so jeder, der beherrscht zu werden nötig hat, zu dem, der zu herrschen versteht, nicht aber, daß dieser die zu Beherrschenden bitte, sich beherrschen zu lassen, wenn er nämlich in Wahrheit etwas taugt.“
(Platon 1994: S. 393; 489b-c)
Eine Demokratie könnte man nun einerseits so auffassen, dass die Wähler durch die Wahl zum Ausdruck bringen, von wem sie regiert werden möchten. Andererseits jedoch bitten im Wahlkampf tatsächlich alle Kandidaten die Wähler darum, sich von ihnen regieren zu lassen. Für Platon bildet die Demokratie denn auch nur eine Verfallsform der Aristokratie. Seiner Ansicht nach entsteht sie, wenn die arme Bevölkerung den Sieg gegenüber der reichen davonträgt. Doch so wie er die Oligarchie, die Herrschaft der Reichen, an ihrer Unersättlichkeit nach Reichtum zugrunde gehen sieht, so sieht er die Demokratie an ihrer „Unersättlichkeit“ (Platon 1994: S. 471; 562b) nach Freiheit scheitern. Schuld daran sei, dass die Bürger immer mehr Zwänge ablegen wollten, wodurch sie immer fauler, weicher und sich immer weniger um Gesetze, die ja den Staat zusammenhalten, kümmern würden. Das Volk ließe das Recht hinter sich und brächte schließlich jemanden an seine Spitze, der sich dann zum Tyrannen aufschwänge. Bei einer Aristokratie hegt Platon solche Bedenken nicht, sondern hält sie im Gegensatz dazu für ausgewogen und langfristig stabil.
Was ist das Wesen der Dinge?
Doch was macht Platon so sicher, dass Philosophen tatsächlich die nötigen Eigenschaften mitbringen, um einer bestmöglichen Aristokratie vorzustehen? Schließlich wurde die Meinung, dass ausgerechnet die Philosophen als Herrscher besonders geeignet wären, damals ebenso wie heute keineswegs von allen geteilt. Und gibt es nicht auch tatsächlich ganz unterschiedliche Philosophen, die nicht alle gleichermaßen für Regierungsgeschäfte geeignet scheinen? Platon bestreitet zwar nicht die unterschiedliche Eignung, doch grundsätzlich sieht er die Voraussetzung gegeben, dass echte Philosophen ihrem Wesen nach „schaulustig sind nach der Wahrheit.“ (Platon 1994: S. 380; 475e) Deshalb sind nur sie in der Lage, zu sehen,
„daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder öffentlichen Angelegenheiten.“
(Platon 1994: S. 423; 517b-c)
Nur die wahrheitssuchenden Philosophen können die Idee, also das Wesen des Guten erkennen, weshalb nur die Philosophen für Platon als Herrscher in Frage kommen. Nur sie forschen nach und sind in der Lage mehr als das Oberflächliche zu sehen, wie Platon in seinem Höhlengleichnis beschreibt: Demzufolge sitzen Menschen in einer Höhle mit dem Gesicht zu einer Wand hingewandt, an der sich die Schattenbilder von Gegenständen abzeichnen, die auf der gegenüberliegenden Höhlenseite, für die Menschen uneinsehbar, vor einem Feuer hin- und herbewegt werden. Nur der Philosoph erhebt sich auf seiner Wahrheitssuche von seinem Platz und kann die schattenwerfenden Gegenstände sehen. Er kann sogar aus der Höhle treten und, beinahe geblendet zwar, die Welt im Licht der Sonne betrachten. Zurück bei den anderen werden diese ihm nicht glauben und darüber lachen.
Folgt man Platon, dann ist der Beruf jedes Menschen bereits in seinem Wesen angelegt, deshalb ergibt sich für ihn daraus auch „eine Art von Schattenbild der Gerechtigkeit, daß nämlich der Schusterhafte auch recht tue, Schuhe zu machen und nicht anderes zu verrichten, und der Zimmermännische nur zu zimmern und die anderen ebenso.“ (Platon 1994: S. 345; 443c) Jeder macht, wonach er seinem Wesen gemäß bestimmt ist und ebenso ist der Wahrheitssuchende dazu bestimmt, Philosoph zu werden, um wiederum derjenige zu sein, der das Wesen der Dinge zu erkennen vermag. Was aber, wenn den Dingen in Wahrheit gar kein Wesen zugrunde liegt? Was, wenn sich hinter diesen unüberschaubar unterschiedlichen Erscheinungen dieser Welt keine platonischen Ideen verbergen?
Platon (1994): Politeia; in Platon: Sämtliche Werke. Band 2; Reinbek bei Hamburg, S. 195-538.